31. Dezember 1963
(Mutter probiert die Orgel aus: eine kleine weiße Silhouette, die sich auf ihrem Schemel hin und herwiegt) Gut. Du hast es sicher aufgenommen?... Dann können wir es morgen abspielen, das erspart mir Arbeit!
Du, du amüsierst dich. Es amüsiert mich auch... Ich weiß nicht, ich weiß überhaupt nicht, was ich tue, überhaupt nicht! Ich höre es kaum. "Etwas" amüsiert sich dort. Wenn ich auch nur eine Minute lang hinhöre, fängt es an zu stören. Das genügt, oder? Was sagst du da drüben (Satprem)? Genügt es, oder willst du noch mehr?
Oh, (lachend) müde? Das ermüdet mich nicht. Der Kopf ist leer. Ich sagte dir doch, wenn ich hinhöre, wird es schwieriger; solange ich nicht zuhöre, geht es prima. Wie spät ist es?
Hast du nichts zu sagen?... Möchtest du noch mehr... in Moll - das hier ist Dur! (Zu Sujata:) Magst du es lieber "fröhlich" oder "traurig"? (Lachen) Ich hatte vor, morgen erst die "Abscheulichkeit der Welt der Lügen" zu spielen und mit dem "Glanz des Lichts" zu enden. Wenn es kommt... Aber das hier war eine musikalische Entspannung. (Mutter begibt sich wieder ans Harmonium: "Moll fröhlich", endend auf G.) Für diesmal ist Schluß. Das G ist ein Versprechen. Immer, wenn ein Versprechen kommt, endet es auf G. (Mutter läßt das G vibrieren) Ich lasse die Klaviatur jetzt so eingestellt, und morgen um halb eins werde ich spielen (für den Aschram). Vielleicht wird es nicht so... frei sein wie heute. Ich weiß nicht, wieviel Uhr es ist... Dort (an der Wand) hängt eine Uhr, aber ich sehe nichts: ich sehe nur den leuchtenden Himmel. (Mutter schenkt Blumen) Dies ist eine "goldene Kraft" (Hibiskus). Ist sie nicht schön! Was hat dir die Musik gesagt?... Ich möchte nicht, daß du "gut" oder "schlecht" sagst, sondern ob etwas rübergekommen ist?
Ah, siehst du! Das ist es. Genau! Jeden Tag schaue ich nach. Am Abend wird das Datum und das Zitat geändert - ich weiß nicht, welcher Text es morgen sein wird. Der ganze Kalender muß umgedreht werden und wieder bei "Januar" beginnen. Möchtest du, daß wir das machen? Reich mir den Kalender. All das kommt weg! Hier haben wir Dezember (Mutter liest:)
(Sujata:) Ist dies das Versprechen, das kam? Ja, das Versprechen des G. Das G verspricht immer. (Mutter stellt den Kalender auf den 1. Januar 1964 und liest das Zitat Sri Aurobindos)
Da haben wir's: All can be done. Alles. Ich liebe diesen Kalender sehr, wegen seiner Zitate. Jeden Abend stelle ich ihn um. Morgen empfange ich... (Mutter wirft einen Blick in ihren Terminkalender) vier, fünf, sechs, sieben, acht Leute, dann zwei unten, das macht zehn - alle zwischen zehn und elf Uhr... (lachend) "All can be done if God's touch is there" ! So sehe ich euch dann im nächsten Jahr. Habe ich dir alles gegeben? Den zweiten Kalender auch? (mit einem Foto von Mutter, gedruckt in Kalkutta) Das andere mochte er nicht.
Ach so, auch das noch! Aber ich war gar nicht streng: ich war in Kontemplation versunken!
(Das Foto auf dem zweiten Kalender zeigt Mutter, wie sie gerade an ihrer Übersetzung arbeitet) Es ist das letzte Buch der Synthese. [[Tatsächlich arbeitete sie auf dem Foto gerade an Savitri. Man erkennt sogar die Verse, die sie gerade übersetzt: Unser Wille wird zu einer Kraft aus der Macht des Ewigen / und die Gedanken zu Strahlen einer spirituellen Sonne."]]
Wir sollten es wieder gemeinsam durchsehen, aber das klappt nicht... (Zu Sujata:) Weißt du, was er tut? - Er nimmt das englische Original und macht sich daran, es alleine zu übersetzen! (Lachen) Da bleibt mir nichts mehr zu tun übrig! Deshalb werde ich dir mein Manuskript zum Abtippen geben, sobald er mit seinem Buch fertig ist. Wenn ich gute Augen hätte, wäre das kein Problem, aber meine Augen taugen nichts mehr, die armen (ich darf nicht schlecht über sie reden, immerhin haben sie ihren Dienst getan, aber trotzdem...) Oder man könnte direkt auf meinem Manuskript korrigieren, aber das will er (Satprem) nicht.
Dann hat es keinen Sinn.
Ach, die Agenda... Ich schwatze die ganze Zeit: Er hat die Gabe, mich zum Schwatzen zu bringen - bevor er kommt, beschließe ich immer: "Ich werde nichts sagen", aber dann... Ich weiß nicht, er sagt nichts, er fragt nichts, ich weiß nicht, was geschieht, aber auf einmal fange ich an zu reden! [[In der Tat stellte Satprem wenige Fragen an Mutter, er WAR aber eine Frage.]] Gut, am 4. werden wir mit der Überarbeitung der Synthese beginnen. Ist meine Schrift schwer zu lesen?
Ach, sie ist nicht mehr so gut. Während ich das schrieb, passierten mir seltsame Dinge: eines Tages fühlte ich plötzlich, daß ich keine Beherrschung mehr über meine Hand hatte... Was tun, um zu schreiben? Auf einmal fing ich an zu schreiben, und da sah ich: es war Sri Aurobindos Handschrift! Da sie aber unleserlich ist, sagte ich: "Das ist kein Fortschritt!" (Lachen) Ich gab mir also große Mühe, konzentrierte mich und schrieb ganz langsam wie eine Schülerin in der Schule, da kam meine eigene Schrift wieder zurück! Du wirst deshalb auf Passagen stoßen, die nicht sehr leserlich sind. Aber das letzte Buch (Die Selbst-Vollendung) ist das umfangreichste, und außerdem ist es schwierig. Er hat es nicht abgeschlossen. Das letzte Kapitel hat er nie zu Ende geschrieben, er sagte mir sogar: "Du wirst es beenden, wenn ich meinen Yoga abgeschlossen habe", dann ist er gegangen und hat alles dagelassen. Er sagte mir noch mehrmals, ich solle das Kapitel zu Ende führen - ich antwortete, ich hätte nicht das Gehirn dafür. Oder sonst müßte ich es auf mediale Weise schreiben, aber ich bin kein gutes Medium, ich bin zu bewußt - das Bewußtsein erwacht sofort im Hintergrund und betrachtet das Phänomen, so kann es nicht funktionieren.
Das wird aber lang! (Mutter lacht) Das heißt, wenn das Ende erreicht ist (wir müssen das Ende abwarten), wenn es abgeschlossen ist, könnte man mit diesen Notizen etwas anfangen - ihr habt noch etwas zu warten! Es wird noch einige Jahre dauern. Das macht nichts, schließlich langweilen wir uns nicht, oder? (Zu Sujata:) Langweilst du dich? Sag, ehrlich, langweilst du dich? (Sujata lacht) Ihn brauche ich gar nicht erst zu fragen, ich weiß: "Ach, das hört ja nie auf, das dauert zu lange, nichts geschieht, nichts ist los..." (Lachen) Ja, meine Kinder, so ist das nun mal. Ich mache, so schnell ich kann, ich bin ja als erste daran interessiert! Aber man kann sich nicht beeilen, das ist nicht möglich. Das geht einfach nicht. In Savitri durchwandert Sri Aurobindo alle Welten, und wie sich herausstellt, folge ich ihm, ohne es zu wissen (weil ich mich nie erinnere - dem Himmel sei Dank! Ich hatte den Herrn gebeten, mir das mentale Erinnerungsvermögen zu nehmen, und Er hat es mir gänzlich genommen, so bin ich nicht mehr damit belastet), aber diese Beschreibung von Savitri trifft auf mich zu, ohne daß ich auf mentale Weise die Rangfolge der Welten kenne, und in letzter Zeit... steckte ich in diesem Lügenbrei (ich erzählte dir letztes Mal davon). Es war wirklich schmerzhaft, und ich verfolgte das Ganze bis hinein in die feinsten Schwingungen - jene, die bis zum Ursprung zurückreichen, da, wo sich die Wahrheit in Lüge verwandeln konnte, wie es dazu kam. Aber diese ursprüngliche Entstellung ist so fein und kaum wahrnehmbar, daß man ein wenig den Mut verliert und sich sagt: "Es ist so leicht, wieder umzukippen... die geringste Kleinigkeit, und schon kippt man wieder in die Lüge, in die Entstellung." Gestern hielt ich einen Text aus Savitri in den Händen, den man mir gebracht hatte - ein Wunderwerk aber... eine so traurige und schmerzvolle Passage, ach, ich hätte beinahe geweint (ich weine nicht so schnell):
Man fragt sich... das ist wie etwas Klebriges, das einen auf allen Seiten umgibt. Man kommt nicht voran, man kann nichts tun, ohne diesen schwarzen, klebrigen Fingern der Lüge zu begegnen. Das war ein schmerzliches Gefühl. Letzte Nacht kam eine Art Antwort. Heute morgen, als ich aufstand, erinnerte ich mich noch undeutlich, aber mitten in der Nacht wußte ich es genau (das ist kein Übergang vom Schlaf in den Wachzustand, sondern man geht vom einen Zustand in den andern, und als ich aus diesem Zustand heraustrat, um wieder in den sogenannten Normalzustand zurückzukehren, erinnerte ich mich noch sehr gut), es war, als ließe man mich die MÖGLICHKEIT leben, wie diese Lüge in Wahrheit zurückverwandelt werden konnte, und das war so fröhlich!... So freudig. Diese Schwingung gleicht der Freude, welche die Vibration der Lüge auflösen und überwinden kann. Das war äußerst wichtig: nicht die Anstrengung, nicht die Geradheit, nicht die Gewissenhaftigkeit, nicht die Strenge, nichts von alledem hatte irgendeine Wirkung auf diese Traurigkeit der Lüge - etwas so Trauriges, so Machtloses, so Erbärmliches... so erbärmlich. Nur eine Schwingung der Freude vermag das zu ändern. Diese Schwingung floß wie silbriges Wasser - sie vibrierte und sprudelte wie silbriges Wasser. Das bedeutet, daß weder Strenge noch Askese, nicht einmal eine intensive und ernsthafte Aspiration, keinerlei Art von Strenge und all diese Dinge je eine Wirkung haben. Keinerlei Wirkung - die Lüge bleibt dahinter bestehen, ohne sich zu rühren... Aber dem Sprudeln der Freude kann sie nicht widerstehen. Das ist interessant. (Schweigen) In seinem Text beschreibt Sri Aurobindo, wie der Herr die Gegensätze, die Widersprüche zusammenführt, damit sie sich gegenseitig bekämpfen, und wie dieser Wille, dieses Wirken ihm ein sardonisches Lächeln abringt (dies ist mein Kommentar).
Zu diesem Text bat mich H um eine Illustration. Ich sah das Bild: das Antlitz des Herrn mit einem sardonischen Lächeln. Aber dann, nach dieser Erfahrung der letzten Nacht, änderte sich heute morgen plötzlich der Gesichtsausdruck: Ich sah das Bild des wahren Schmerzes eines tiefen Mitgefühls - ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll... Das sardonische Lächeln wandelte sich: von sardonisch zu bitter, von bitter zu schmerzlich und schließlich erfüllt von einem außerordentlich tiefen Mitgefühl... (Schweigen) So ließe sich sagen: Die Lüge ist der Schmerz des Herrn, und seine Freude ist die Heilung aller Lügen. Der Schmerz mußte zum Ausdruck kommen, um aus der Schöpfung ausgelöscht zu werden. Der Schmerz ist die Lüge - der Schmerz des Herrn, der Schmerz in seiner Essenz ist die Lüge. In der Lüge leben, heißt demzufolge, dem Herrn Schmerz bereiten. Das eröffnet Horizonte... Seine Freude ist die Heilung für alles. So präsentiert sich das Problem von der anderen Seite aus gesehen. Wenn man den Herrn liebt, kann man ihm keinen Schmerz bereiten, also kehrt man notgedrungen der Lüge den Rücken und tritt ein in die Freude. All das sah ich letzte Nacht. Es war ganz silbern. Silbern, silbern... Ich sah sogar die Schwingungsart der Zellen: die Schwingungen waren silbrig, sprudelnd, bebend, aber sehr gleichmäßig und präzise... (wie soll ich das beschreiben?...) Es bezeichnete den Gegensatz zur Lüge in den Zellen, wie winzige Explosionen silbrigen Lichts. Dies (die Lüge) ist das große Hindernis, es stellt die äußerste Schwierigkeit dar. Wie etwas Klebriges, das in die Schöpfung eingedrungen ist, das allem anhaftet und sogar zu einer materiellen Gewohnheit geworden ist, denn die Lüge steckt nicht nur im Mental sondern auch im Leben, im Leben selbst. Ich weiß nicht, ob sie auch im völlig Leblosen existiert... Vielleicht ist sie mit dem Leben gekommen? (Savitri zufolge liegt der Ursprung der Lüge im Leben). Aber es scheint, als habe das Unbewußte, um zum Bewußtsein zu gelangen, um zum Bewußtsein zurückzufinden, den Weg der Lüge und des Todes gewählt anstatt den der Wahrheit. Das ist wirklich Die Lüge: der Schmerz des Herrn. Ich wurde um eine Neujahrsbotschaft für das kommende Jahr gebeten, und da kamen mir ständig Dinge dieser Art, deshalb sagte ich nichts. Man würde es sowieso nicht verstehen - wenn man nicht selber die Erfahrung gemacht hat, ist es unverständlich. Und wenn man es so direkt sagt, auf fast dogmatische Weise: "Die Lüge ist der Schmerz des Herrn", dann besagt es nichts. Und wenn man es poetisch ausdrückte, wäre es auch nicht mehr wahr. Oder wenn man sagt: "Die Lüge ist die Art des Herrn, unglücklich zu sein" (Mutter lacht), würden das die Leute nicht ernst nehmen. Gut, meine Kinder, es ist Zeit, sich an die Arbeit zu begeben. Ich wünsche euch ein gutes Neues Jahr!
@ Ende
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